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Anspieltipp: „Noughts + Crosses“ (2020) – Afrika kolonisiert Europa

verfasst am 20.Dezember 2020 von Markus Haage

Alternate-History-Visionen haben derzeit Hochkonjunktur. Jahrzehntelang wurde dieses Subgenre der Phantastik immer etwas stiefmütterlich behandelt. Vielleicht auch, weil zahlreiche Künstler sich oftmals den ganz großen Themen der Weltgeschichte widmeten, deren alternativer Verlauf auf den Leser aus der Masse wohl zu spekulativ erschien. Als populärstes Beispiel dürfte ein hypothetischer Sieg der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg genannt werden. Schon Phillip K. Dick bediente sich mit „Das Orakel vom Berge“ („The Man in the High Castle“) 1962 dieser Variante. Hier gewannen Nazi-Deutschland und das Japanische Kaiserreich den Zweiten Weltkrieg und teilten die Vereinigten Staaten von Amerika unter sich auf. Der Roman wurde von Amazon in vier Staffeln frei verfilmt (via Amazon Prime frei verfügbar). Robert Harris veröffentlichte 1992 mit „Vaterland“ („Fatherland“) seinen ersten Roman. Auch hier gewann das Dritte Reich den Krieg. Eine Verfilmung des Pay-TV-Senders HBO erfolgte bereits 1994. 2018 stellte Netflix die Frage, was wäre, wenn der Kommunismus im Ostblock gesiegt hätte? Die Serie „1983“ (2018) versuchte dies zu beantworten. Und das ZDF stellte sich in der Fake-Doku „Der Dritte Weltkrieg“ (1998) vor, dass die Politik der Glasnost und Perestroika in einem Dritten Weltkrieg geendet hätte.

Diese Konzentration auf die großen westlichen Ereignisse zeigt aber eben auch auf, wie einseitig Alternativweltgeschichte oft behandelt wurde. Europäische – oder eher westliche! – Geschichte stand stets im Fokus. Protagonisten und Antagonisten waren stets weiß und ihre Geschichten westlich/europäisch geprägt, aber westliche Gesellschaften als Untergebene darzustellen, damit tat man sich fast immer schwer. Eine Welt, in der die Reconquista fehlschlug oder die Osmanen vor Wien nicht halt machten? Anscheinend schwierig. Schon 1995 versuchten John Travolta und Harry Belafonte die Machtverhältnisse in den USA im Thriller „Straße der Rache“ („White Man’s Burden“) umzudrehen. Auch wenn der Film sicherlich keinen Klassiker darstellte, waren die Kritiken teils irritierend vernichtend. Ähnlich erging es der australischen Mockumentary „BabaKiueria“ (1986), in der die Aborigines über die weißen Einwanderer herrschten. Auch dieser Versuch der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte wurde vor allem im europäischen Westen wenig wahrgenommen.

Die Romanreihe „Noughts and Crosses“ änderte dies aufgrund ihres Erfolges wohl erstmalig nachhaltig und zwang den Lesern eine neue Perspektive auf die Entwicklung der Weltgeschichte auf. Bereits 2002 erschienen, besteht die Young-Adult-Reihe aus bisher fünf Romanen und drei Novellen. Letztes Jahr nahm sich die BBC, der öffentlich-rechtliche Rundfunk Großbritanniens, der Geschichte an und verfilmte den gleichnamigen ersten Roman als Miniserie in sechs einstündigen Episoden. Eine Fortsetzung aufgrund des vorliegenden Materials ist möglich, bisher allerdings noch nicht angekündigt.

London nach Jahrhunderten der afrikanischen Kolonisation.
(© BBC)

Die Welt von „Noughts + Crosses“ stellt die letzten Jahrhunderte Menschheitsgeschichte vollkommen auf den Kopf. Vor 700 Jahren, als die Europäer eigentlich langsam aus dem Mittelalter erwachten um die Renaissance einzuläuten, eroberte das Aprikanische (nicht afrikanische) Imperium die britischen Inseln und kolonisierte sie. Hunderte Jahre an Unterdrückung begannen, die die echte europäische Kolonialgeschichte widerspiegeln, aber eben aus einer anderen Perspektive. Die weiße Bevölkerung wurde ihrer Kultur beraubt und als Sklaven missbraucht. Als Minderheit im eigenen Land mussten diese mit ansehen, wie die aprikanischen Kolonialherren ihre Ressourcen ausbeuteten, ihre Kultur unterdrückten und ihre Ländereien unter sich aufteilten. Eine eigene kulturelle Entwicklung wurde ihnen demnach vollends genommen, sodass sie sich grundsätzlich im Nachteil befinden. Wirtschaftlich stehen sie am Rande der Gesellschaft, leben in Slums oder Armenvierteln und kämpfen um eine eigene Identität. Die schwarze Herrschaftsklasse, von denen sie abwertend als Blankers (Bleichgesichte) bezeichnet werden, diskutiert darüber, ob man die Segregation, die Rassentrennung, aufheben sollte, um den Weißen eine Teilhabe zu erlauben. Die Unterwanderung des Staates wird befürchtet. Eine Überfremdung könnte angeblich stattfinden. In einer Schlüsselszene des Films streiten die Herrschenden darüber, ob man das Mittsommerfest in den Straßen der weißen Slums überhaupt zulassen könnte. Ein alter Brauch, der wieder auflebt, weil in dieser Realität das Christentum, geschweige denn die anglikanische Kirche, sich nicht als vorherrschende Religion entwickeln konnte. Die gesamte Politik, Wirtschaft und Geschichte, die Rechtssysteme und gar die technologische Entwicklung, basiert auf der Kultur der aprikanischen Kolonialisten.

Dieser krasse Perspektivwechsel fordert dem Zuschauer einen enormen Erkenntnisgewinn ab. Es sind vor allem die kleinen Szenen die systematischen Rassismus oder zumindest Ignoranz offenbaren, der in der realen Welt kaum wahrgenommen oder oftmals als Kleinigkeit abgetan wird. Seien es schwarz gefärbte Pflaster, die die Hautfarbe der Mehrheitsbevölkerung widerspiegeln, oder die Kameraobjektive, deren Belichtung für schwarze Hauttypen abgestimmt ist, als auch der Zwang zu für Weiße „unnatürlichen“ Frisuren. Ähnlich wie Afroamerikaner in der Realität regelrecht darum kämpfen mussten, ihre Haare nicht glätten zu müssen, um weniger schwarz zu wirken, tragen hier nun die Weißen Dreadlocks oder Dauerwellen, um dem schwarzen Ideal oder der vorherrschenden Mehrheitskultur anzupassen. Sie nennen ihre Väter nicht „Dad“, sondern „Baba“ (das swahilische Wort für Vater), tragen Kleidung nach afrikanischen Vorbild und träumen davon Teil der Majorität zu sein. Es fühlt sich vollkommen unnatürlich und falsch an. Eben aufgezwungen. Dasselbe gilt ebenfalls für die Architektur und innerstädtische Struktur. Inmitten von London steht nun eine Statue, die die Eroberung des weißen Kontinents glorifiziert. Ein Spiegelbild der Freiheitsstatue, die zwar offiziell laut Insignien die „Müden“, die „Armen“ und die „geknechteten Massen“ empfangen sollte, allerdings auch nur die weißen Müden und Armen. Die Inschrift galt weder für die Ureinwohner Nord-Amerikas, dessen Ländereinen den weißen „geknechteten Massen“ zur Verfügung gestellt wurden, noch für die Afroamerikaner, die zum Zeitpunkt des Baus der Freiheitsstatue unter einer brutalen Segregation zu leiden hatten.

„Noughts + Crosses“ bedient sich hierbei vieler realer Vorbilder. Die Sklaverei und Segregation in den USA, die Apartheid in Südafrika, die belgische Kolonisationsgeschichte des Kongos, die gewaltsame Eroberung Südamerikas durch portugiesische und spanische Mächte oder auch die Unterdrückung der Aborigines in Australien. Weiße Zuschauer aus einem westlichen Kulturkreis werden somit krass, aber auch teils subtil mit einer anderen Realität konfrontiert, in der sie nicht die privilegierte Oberschicht des Planeten darstellen und diesen eben auch nicht nach ihrem Antlitz formen konnten. Es waren nun afrikanische Forscher und Wissenschaftler, die sich für die bahnbrechenden Technologie-Sprünge verantwortlich zeichnen konnten und im Fokus der Weltgeschichte stehen. Es waren nun afrikanische Organisationen, die die Geschicke der Welt lenkten, so wie es die Europäische Union, die NATO, Greenpeace, das Rote Kreuz, die OSZE oder die UNO es in der Realität taten. Afrikanische Preise sind von Bedeutung. Ein Nobelpreis, Emmy, Grammy, Grimme-Preis oder Oscar existiert nicht. Genauso wenig wie eine Fields-Medaille, eine Medal of Honor, ein Bundesverdienstkreuz oder ein Hosenbandorden. Weder wird Weihnachten gefeiert, noch stehen die dunkelsten Ereignisse Europas im Vordergrund der Weltgeschichte, die die Evolution der westlichen Völker maßgeblich voranbrachten. Europäische Fürstentümer und Königreiche entwickelten sich nie zu Nationen weiter, zogen nicht in einen Krieg gegeneinander, schmiedeten keine Bündnisse, durchlebten keine prägenden Revolutionen oder Bürgerkriege und werden rückblickend nur noch als unterentwickelte Stämme wahrgenommen. Sachsen, Skoten, Kelten, Franken, Römer. Alles „Blankers“, alles irgendwie dasselbe. Kein British Empire, kein Frankreich, keine United States of America, kein Deutsches Kaiserreich. Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg hat nie stattgefunden, da Großbritannien nie zu einer Seemacht aufstieg und Nord-Amerika bevölkern konnte. Weder die Französische Revolution trat ein, noch die Oktoberrevolution. Karl Marx schrieb nie „Das Kapital“ und Martin Luther schlug keine Thesen an die Kirchentür. Shakespeare verfasste keine Dramen, die sixtinische Kapelle wurde nie erbaut. Florenz muss ohne David auskommen und der Mond ohne US-amerikanische Flagge.

In „Noughts + Crosses“ herrscht ein gewaltsam unterdrückter Stillstand der europäischen Völker. Dem Zuschauer wird durch das dunkle Spiegelbild die einfache Erkenntnis abgerungen, dass mit der Kolonisation und damit einhergehenden Zerschlagung Afrikas den Völkern dieses Kontinents nicht nur bloß Ressourcen geraubt wurden, sondern auch Jahrhunderte an eigener sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und politischer Entwicklung. Die Identifizierung mit der weißen Unterschicht erlaubt den Rollenwechsel auf teils eindrucksvolle Weise. Man fühlt die Ungerechtigkeiten. Die großen gesellschaftlichen, als auch die kleinen alltäglichen. „Noughts + Crosses“ ist bei der Darstellung dieser alternativen Welt erfrischend ehrlich und offenbart damit die Heuchelei der realen Vergangenheit. Albion, das fiktive Großbritannien, wird im Film von einem schwarzen Premierminister regiert, der offen für die Segregation kämpft, aber insgeheim einen Mischlingssohn mit einer weißen Haushälterin hat. Es erinnert an US-amerikanische Senatoren wie Strom Thurmond, der offen für die Rassentrennung kämpfte, aber ein Kind mit seiner schwarzen Haushälterin zeugte. Im Fokus der Geschichte steht allerdings ein junges Paar. Callum, ein weißer Kadett, und Sephy, die schwarze Tochter des Premierministers. Beide müssen sich mit den Gegebenheiten dieser Welt abfinden. Eine Welt, die ihre Liebe nicht dulden kann. Interessant hierbei ist, dass auf eine triefende klassische Liebesgeschichte weitestgehend verzichtet wird. Auch wenn Sephy und Callum klassische Identifikationsfiguren für ein junges Publikum darstellen, sind ihre Rolle und ihre Beziehung zueinander weitaus komplexer, als man anfangs erwarten würde. Dies zieht sich auch bis zum Ende der Geschichte durch. Ein klassisches Happy End sollte nicht erwartet werden. Damit würde sich der Anspruch der Serie an einen, nennen-wir-es-mal fiktiven Realismus auch selbst betrügen. Denn genau dieser sorgt tatsächlich nicht nur für eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, sondern auch den eigenen Vorurteilen des Zuschauers, dessen er sich oftmals nicht bewusst ist. Auch zehrt die Serie am Selbstverständnis des westlichen Zuschauers. Die Menschheitsgeschichte hätte schnell einen anderen Verlauf nehmen können. Und dann würden wir – oder zumindest Teile Europas – uns vielleicht nicht im Jahre 2020 nach Christi Geburt befinden. Zumindest nicht nach dieser Zeitrechnung. Je nachdem, wer uns erobert und geprägt hätte.

Allerdings richtet sich die Serie nicht nur vornehmlich an eine westliche Zuschauerschaft. Sie stellt auch auf herausfordernde Weise die Frage, wie die in der Realität unterdrückten Massen sich verhalten würden, wenn sie eine solche Macht inne hätten. Wäre die Welt tatsächlich ein besserer Ort? Oder die Menschheitsgeschichte weniger blutig und ungerecht verlaufen? Bereits die Prämisse oder nur die bloße Hintergrundgeschichte widerlegt dieses eindeutig. Eine gewaltsame Eroberung hat stattgefunden. Die daraus entstandene Ordnung wird nicht minder gewaltsam wie in der realen Vergangenheit verteidigt.

„Noughts + Crosses“ wurde bereits im März 2020 in Großbritannien ausgestrahlt. Ein deutscher Sendetermin steht noch nicht fest.

Markus Haage

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Mein Name ist Markus Haage, Chefredakteur und Herausgeber vom Neon Zombie-Magazin. Es gibt nicht sonderlich viel spektakuläres über mich zu erzählen. Ich führe ein sehr langweiliges Leben. Aber falls es doch jemanden interessiert, freue ich mich immer über einen Besuch meiner Website www.markus-haage.de! Danke im Voraus!