Ein Kapitel aus Bram Stokers legendärem Roman „Dracula“ war die Vorlage für André Øvredals „Die letzte Fahrt der Demeter“. Die Geschichte ist somit bekannt; nur ein Nebenschauplatz der eigentlichen Schauer-Mär. Wie will man darauf basierend einen Horrorfilm spannend inszenieren, bei dem das Ableben aller Charaktere Grundlage für den Ausgang ist …?
Offizielle Synopsis: Bei dem Transport einer ungewöhnlichen Fracht ereilen schon kurz nach Beginn der Reise ungewöhnliche Ereignisse die Besatzung der Demeter. Die Tiere an Bord werden grausam dahingerafft und kurz darauf verschwinden erste Crewmitglieder spurlos. Als der Schoner schließlich die Küste Englands erreicht, ist er nur noch ein marodes und siechendes Wrack. Von der Mannschaft fehlt jede Spur …
Mit „Die letzte Fahrt der Demeter“ („The Last Voyage of the Demeter“, 2023) nimmt sich Universal Pictures der Verfilmung des siebten Kapitels „Cutting from ‚The Dailygraph,‘ 8 August“ („Log of the ‚Demeter‘“) aus Bram Stokers legendärem Horror-Roman „Dracula“ (1897) an. Dieses versteht sich als Vorgeschichte zur eigentlichen Handlung; gibt Preis wie der Graf von Siebenbürgen, seiner rumänischen Heimat, nach London, dem Herz des British Empire, gelangte. An Bord eines Schiffes mit dem Namen Demeter wurde er mitsamt fünfzig Kisten voller transsylvanischer Heimaterde von Varna, einem bulgarischen Hafen am Schwarzen Meer, nach Whitby, einer Kleinstadt an der englischen Küste, gespült. Der Kahn war dem Untergang geweiht; kein Besatzungsmitglied überlebte die Überfahrt, das Schiffswrack hing führerlos an den Klippen fest. Ein mysteriöses Unglück, welches im Roman Dr. Seward, Leiter einer Nervenheilanstalt, versucht auf die Spur zu gehen. Logbuch- und Tagebucheinträge sind das einzige Überbleibsel der Reise; und diese berichten von einem unerklärlichen Grauen.
„4. August: […] Ich musste die ganze Nacht das Steuer festhalten und als ich so in der Finsternis stand, sah ich ihn. […] Als Seemann den Tod in den schwarzen Wassern zu suchen, darf einem nicht verübelt werden. Aber ich bin nun einmal der Kapitän. Ich darf mein Schiff unter keinen Umständen verlassen. […] Ich werde mich wehren und gegen das Ungeheuer kämpfen. Ich werde meine Hände an das Ruder fesseln. […], so habe ich doch alles getan um meine Ehre und meine Seele zu retten. Ich bereite die kleine Flasche vor, falls wir schiffsbrüchig werden. Falls man sie findet, wird man vielleicht verstehen. Ich jedenfalls bleibe meiner Pflicht treu. Gott hilf mir und stehe einer armen irrenden Seele bei.“
– Auszug „Dracula“ (1898)
Stoker gelang hier ein narrativer Kniff, der dem stringent strukturierten Werk nicht nur mehr mythologische Tiefe gab, die Romanfigur Dr. Seward nahm sogar die Perspektive des Lesers ein; konnte selbst nur versuchen, sich aus den Aufzeichnungen einen Reim zu machen. Für den Stil des Romans aber nicht unüblich. Das „Log of the ‚Demeter‘“ sticht nicht zwingend durch den Perspektivwechsel hervor – ist streng genommen nur ein Unterkapitel.; das gesamte Werk zitiert zudem stets Tagebuch-Aufzeichnungen, medizinische Berichte und gar Finanz-Transaktionen –, aber dennoch geht genau von diesem siebten Kapitel eine besondere Faszination aus. Es ist nicht nur eine persönliche Interpretation übernatürlicher Ereignisse, sondern eine in sich abgeschlossene Horror-Mär, die dem Leser viel Raum für die eigene Fantasie lässt. Perfekt für eine Verfilmung geeignet … als – paradoxerweise – auch ungeeignet. Die Geschichte innerhalb des Romans fungiert zwar als eine Art von Teaser auf das Grauen, welches den Hauptfiguren noch bevorstehen sollte, aber für sich alleinstehend spielte es eigentlich keine nennenswerte Rolle. Es war zwar eine in sich abgeschlossene Geschichte; von der Funktion im Kontext des Romans eher eine atmosphärische Unterfütterung.
Regisseur André Øvredal, der vor ab mit Werken wie „The Autopsy of Jane Doe“ (2016) und „Scary Stories to tell in the Dark“ (2019) begeistern konnte, zitiert bei seiner Interpretation des Logbuchs die Vampir-Historie reichhaltig – sein Dracula kann optisch als Hommage an Fritz Murnaus „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ (1922) angesehen werden –, ist aber dennoch durch die Vorgaben der Vorlage limitiert. Die Geschichte ist bekannt; wie bei „Titanic“ (1997) weiß man, wie sie ausgehen muss. Doch im Gegensatz zu Camerons Epos wissen wir eben nicht nur, dass die Überfahrt dem Untergang geweiht ist, bei „Die letzte Fahrt der Demeter“ ist uns gar bekannt, dass niemand überleben wird. Der Antagonist wird gewinnen und in England an Land gehen. Das Ende der „Demeter“ ist der Anfang der Haupthandlung von „Dracula“. Dies ist Segen und Fluch zugleich. Man muss keine Rücksicht auf Verluste nehmen, kann aber eben bei genau diesen Verlusten narrativ kaum überraschen. Wenn jeder stirbt, bleibt nur noch die Frage nach dem „wann“ und „wie“.
„Die letzte Fahrt der Demeter“ kann ihre Reise damit nur inhaltlich variieren, die unerwähnten Freiräume im Logbuch neu definieren, aber weder Anfang noch Ende selbst bestimmen. Es werden Charaktere hinzugefügt, versucht den größtmöglichen Horror auf kleinsten Raum zu erschaffen, geht hierbei allerdings zu sehr in die narrative Breite. Das Werk wäre vielleicht wirksamer gewesen, wenn man mindestens zwanzig Minuten gekürzt hätte. Es hätte hierfür genug Material gegeben. Bereits im Hafen von Varna möchte man das Publikum prophetisch von der unheilsamen Fracht bei der Ladung des Schiffes überzeugen, indem gleich zweimal kurz hintereinander Einheimische vor Angst ihren Lohn ablehnen und von dannen ziehen. Anstatt einer Schiffsreise des Schreckens wäre vielleicht eine Achterbahnfahrt des Horrors angemessener gewesen, wenn man davon ausgehen muss, dass dem geneigten Zuschauer der grundlegenden Plot bekannt ist. Und selbst wenn nicht, gibt der Titel diesen im Grunde bereits vor. Es muss die „letzte Fahrt der Demeter“ sein; die Bestie im Frachtraum wird obsiegen. Zum Ende hin versucht der Film auch daran anzuknüpfen. Raffiniert verweist Øvredal auf den noch kommenden Horror, auch wenn er damit mit dem Ausgang der Vorlage bewusst bricht. So viel sei verraten, auch wenn es leider den einzigen Twist darstellt: Ein Mitglied der Crew wird überleben. Nicht, weil die Geschichte es so will, sondern eher, um einen möglichen Übergang zu einer Fortsetzung zu schaffen. Vielleicht war es die Intention dem Werk ein Sequel oder aber gar ein Prequel folgen zu lassen.
Die eigentlichen Überraschungen und Wendungen stecken somit im Detail der Geschichte: Den Charakteren, die eigentlich irrelevant für den größeren Dracula-Plot sind. Bram Stoker sah sie nur als Beiwerk an. Die Information, dass sie bei der Überfahrt „verschwunden“ sind, reichte aus, um Grusel auslösen. Es wurde der Fantasie des Lesers überlassen, welches konkrete Schicksal sie ereilte. „Die letzte Fahrt der Demeter“ hat sich zur Aufgabe gemacht, diese Geschichte zu erzählen und muss nun diese Details preisgeben. Es sind im Grunde die einzigen und eigentlichen Schauwerte des Werks. Ein Crewmitglied nach dem anderen wird dezimiert; dem sprichwörtlichen Pöbel trifft es zuerst. Damit diese nicht nur zu seelenlosen Opfern werden, war es Øvredal wichtig, ihnen ein Gesicht, eine Geschichte zu geben und eben diese Crew zu diversifizieren. Es sind nicht nur alte Raubeine auf hoher See, sondern auch Kinder und Frauen an Bord, deren Aufgabe es ist, den Preis für das Überleben dramaturgisch zu erhöhen und somit eine echte Motivation zum Überleben zu verleihen, und natürlich, um die Mythologisierung des Antagonisten, Graf Dracula, als grausame Bestie voranzutreiben.
Doch trotz dieser Bemühungen wird vom Zuschauer eine ordentliche Portion „Suspension of Disbelief“ abverlangt. Man muss die Prämisse akzeptieren: Die Crew versteht sich im Grunde als Gefangene ihres eigenen Kahns. Letztlich könnte man das Schiff per Rettungsboot auch tagsüber verlassen; schließlich schippert man von Bulgarien nach England, stets an einer Küste entlang. Sei es durch den Bosporus oder der Meerenge von Gibraltar. Dieses nicht zu tun, muss erklärt werden. Dies erzählerisch elegant oder logisch befriedigend zu schaffen, scheint fast unmöglich. Die Crew ist inhaltlich dazu verdammt, nicht logisch zu agieren; ihr Handeln wird dramaturgisch übertüncht; in der Hoffnung, dass es das Publikum nicht hinterfragt. Das Schiff am Tage in Brand zu setzen oder die Deckplanken bei Sonnenlicht zu entfernen, kann keine Option sein. Die Handlung wäre nach zwanzig Minuten beendet.
Normalerweise werden solche Kammerspiele unter der Devise „Es kracht, es zischt, zu seh’n ist nichts“ inszeniert. Im Falle von „Die letzte Fahrt der Demeter“ verhält es sich genau umgekehrt. Das Publikum weiß, wer sich unter Deck befindet. Dem Antagonisten umgibt für den Zuschauer kein Geheimnis mehr; tritt das Monstrum in Erscheinung, so wird es gut ausgeleuchtet präsentiert. Natürlich eine bewusste Entscheidung, weswegen man sich auch nicht bei der Umsetzung der zu erwartenden Gewaltakte zurückhält. Blut muss fließen; dies ist vorgegeben – und so kann man durchaus vermuten, dass man bei der vorliegenden Interpretation versuchte, durch diese Schauwerte zu punkten. Dies passt allerdings auch zur Darstellung Draculas, der in seiner Anfangsform animalische Züge annimmt. Er ist in dieser Form ein Monstrum, so wie Stoker ihn auch ursprünglich beschrieb. Kein eleganter Herr im Frack; zumindest noch nicht. In seiner ausgehungerten und ausgemergelten Gestalt dürstet es ihn nach Lebenssaft, auch tierischen Blut. Ihre eigentliche Gestalt nimmt die Bestie erst sukzessive gen Ende des Films an. Nachdem es sich an der Besatzung der Demeter laben konnte. Hier endet das Unterkapitel im Roman als auch der Film. Keine Überraschung, kein Geheimnis. Und dennoch versucht Øvredal zum Abschluss noch die erwähnte Brücke für eine mögliche Fortführung zu schlagen und nimmt sich dafür eine große kreative Freiheit.
Ein Sequel ist inhaltlich möglich; war vielleicht gar angedacht. Doch eine erneute Verfilmung der eigentlichen Haupthandlung von Bram Stokers „Dracula“ erscheint nach dem mageren Einspielergebnis leider ausgeschlossen. 2023 war nicht das Jahr für Leinwand-Vampire. Wie „Renfield“ (2023), ebenfalls aus dem Hause Universal Pictures, scheiterte bedauerlicherweise auch „Die letzte Fahrt der Demeter“ beim Publikum. Gemessen an den zahlreichen Interpretationen des Dracula-Mythos der letzten zehn Jahre, wird die letzte Fahrt aber sicherlich nicht die letzte Reise des Grafen auf der Leinwand sein.
Die eigentlich simpel gestrickte Geschichte versucht durch geschickt inszeniertes Grauen zu begeistern, letztlich muss es ihr aber versagt sein, den auferlegten Vorgaben ihrer Welt zu entfliehen. Bei kaum einem anderen Werk hängt die Freude am Film wohl vom Kenntnisstand über die Vorlage ab; womit sich auch die Perspektive auf das Werk tatsächlich von Zuschauer zu Zuschauer drastisch unterscheiden kann. Was davon abgesehen bleibt, ist ein klassischer Gruselfilm, der inszenatorisch nur durch die Umsetzung einiger Schockmomente in die Moderne entflieht, und dessen gefühlte Opulenz, der „Überlänge“, zumindest sympathisch auch als Hommage an die Ära des „Hammer“-Horrors verklärt werden darf. Øvredal empfiehlt sich damit weiterhin als stilsicherer Regisseur von Horror-Mären.
‐ Markus Haage
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