Nachdem das Marvel Cinematic Universe mittlerweile alle Medien erschlossen hat, lässt es dank einer inhaltlichen Wendung – der Etablierung des Multiversums – nun auch Handlungen und Charaktere außerhalb der eigentlichen Franchise mit der eigenen Welt verschmelzen. Ein aus dramaturgischer Sicht eigentlich extrem gewagtes Experiment, welches aber mit „Spider-Man: No Way Home“ inhaltlich als auch inszenatorisch spektakulär umgesetzt wurde.
Offizielle Synopsis: Zum ersten Mal in der Filmgeschichte von Spider-Man ist die Identität unseres Helden enthüllt, wodurch diejenigen, die ihm am meisten am Herzen liegen, in Gefahr geraten. Als er die Hilfe von Doctor Strange in Anspruch nimmt, um sein Geheimnis wiederherzustellen, reißt dessen Zauber ein Loch in ihre Welt und setzt die mächtigsten Schurken frei, die jemals ein Spider-Man in irgendeinem Universum bekämpft hat. Jetzt ist es an Peter, seine bisher größte Herausforderung zu meistern, die nicht nur seine eigene Zukunft für immer verändern wird, sondern auch die Zukunft des Multiversums.
Seit 2008 verzaubert das Marvel Cinematic Universe (fortan: MCU) die Kinowelt. Was anfangs wie ein irres Unterfangen wirkte, hat sich mittlerweile nicht nur zur erfolgreichsten Filmserie aller Zeiten entwickelt, sondern auch die Filmlandschaft maßgeblich verändert. Viele große Filmstudios versuchten diesen unfassbaren Erfolg nachzuahmen, kaum eines schaffte es. Mittlerweile umfasst das MCU 27 Filme und siebzehn Fernseh- als auch Streaming-Serien (Stand: Dezember 2021). Die nächsten zehn Jahre sind bereits fest verplant. Weitere Helden, Schurken und somit Filme und Serien werden folgen. Ob man hier irgendwann noch die Übersicht behalten kann, bleibt abzuwarten. Eine Übersättigung an Content ist aber wohl nicht zu erwarten, sondern eher an inhaltlichen Umfang. Nicht nur, weil das Universum sich mittlerweile über unzählige unterschiedliche Medien erstreckt, sondern nun in gewisser Hinsicht auch rückwirkend Filme und Serien zur eigenen Mythologie dazuzählt. „Spider-Man: No Way Home“ (2021) wird hier wohl lediglich nur den Anfang machen. Mit dem Ende der sogenannten Phase III des MCUs, die mit „The Avengers: Endgame“ (2019) ihren spektakulären Höhepunkt, aber erst mit „Spider-Man: Far from Home“ (2019) ihr eigentliches Ende fand, hat man das Universum de facto auf den Kopf gestellt. Die Rettung der Hälfte allen Lebens bedeutete nicht nur einen radikalen Neustart, sondern brachte auch das Zeit-Raum-Gefüge maßgeblich ins Wanken. Stück für Stück. Die Grenzen des Multiversums wurden aufgebrochen, um den Superschurken Thanos (Josh Brolin) zu besiegen und seinen „Snap“ rückgängig zu machen. Das Ende der Disney+-Serie „Loki“ (2020–) hat dies bereits spektakulär angeteasert, jetzt wird es konsequent weitergedacht und in einem der noch kommenden Filme, „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ (2022), vollkommen eskalieren zu lassen. MCU-Mastermind Kevin Feige, Chef von Marvel Studios und Produzent sämtlicher Filme, sprach bereits davon, dass die vierte Phase keine echte Phase sei und somit nicht dem traditionellen Storytelling unterliegt. Es ist erscheint nun – zumindest vorerst – alles möglich und das Cinematic Universe wächst jetzt somit auch „rückwärts“ weit über sich hinaus.
Mit „Spider-Man: No Way Home“ werden endgültig alle Barrieren durchbrochen. Auch wenn dies auf eine teils verrückte Art und Weise bereits mit „Loki“ geschah – man denke hierbei nur an Throg, der Frosch-Version von Thor (Chris Hemsworth) – ist das Chaos des Multiversums nun endgültig im Herzen der Filmreihe, somit „unserer“ Welt, angekommen. Alte Helden und Schurken außerhalb des MCUs greifen im vorliegenden Werk jetzt maßgeblich in die Handlung ein, die vorab nur in den in sich abgeschlossenen Filmreihen aufgetreten sind. Sam Raimis „Spider-Man“ (2002) ist inhaltlich genauso von Bedeutung wie Marc Webbs „The Amazing Spider-Man“ (2012) oder John Watts‘ „Spider-Man: Homecoming“ (2017). Damit gelingt dem MCU ein kleines Kunststück. Generationenübergreifend werden zwei Jahrzehnte an Marvel-Abenteuern zelebriert, ohne dass dies in irgendeiner Art und Weise erzwungen wirkt. Möchte man kleinlich sein, so könnte man den ein oder anderen Moment, der zu diesem „Chaos“ führt, als konstruiert bezeichnen. Allerdings sollte man hierbei auch anerkennen, dass die mutige inhaltliche Reise, auf die der Film sich begibt, letztlich auf eine Laufzeit von „nur“ 148 Minuten limitiert ist. Zahlreiche Charaktere müssen nicht nur (erneut) präsentiert, sondern ihre Handlungen auch sinnvoll abgeschlossen und gleichzeitig mit Rücksicht auf alle anderen Werke behandelt werden. Gewisse Abkürzungen sind vonnöten, um sich vom inhaltlichen Ballast zu befreien. Viele andere Filme aus demselben Genre verzweifeln oft schon daran neue Figuren befriedigend vorzustellen, „Spider-Man: No Way Home“ führt hingegen nicht nur neue Persönlichkeiten ein, sondern setzt die bekannten Charaktere aus anderen Universen auch in einen vollkommen neuen Kontext, ohne, dass man hierbei die vorangegangenen Werke, die teils zwanzig Jahre zurückliegen, gesehen haben muss. Selbstredend wäre dies eine enorme Bereicherung, um ihre Story-Arcs vollends nachvollziehen zu können und demnach nur zu empfehlen, allerdings keine Voraussetzung, um ihrer Handlung und Motivation zu folgen.
Es verhält sich sogar so, dass „Spider-Man: No Way Home“ vielen der Antagonisten neue tragische Akzente verpasst, was ihre eigentlichen Einzelfilme vorab nicht vollends vermochten. Insbesondere Doc Ock (Alfred Molina) als auch Green Goblin (Willem Dafoe) profitieren davon. Dies ist auch deswegen bemerkenswert, weil der Film sich traut, die alten Schurken in Teilen neu zu erfinden oder weiterzuentwickeln. Einer der Antagonisten wird gar seine eigene Redemption erhalten und dies über einen vollkommen unerwarteten Handlungsstrang im Mittelteil, der vom Promotion-Material dankenswerterweise ausgespart wurde. Dies ist wohl eines der großen Verdienste des Films: Die Promotion ist absichtlich irreführend. Sie zeigt gewisse Höhepunkte auf, ohne die eigentlichen Highlights (und Wendungen) auch nur ansatzweise zu verraten. In einem Zeitalter, indem gerne einmal fünfzig TV-Spots und vierzig Charakter-Poster zu einem einzigen Werk präsentiert werden, eine Leistung für sich, die es hervorzuheben gilt. Ein Promotion-Overkill fand somit nicht statt – der erste Trailer wurde gerade einmal zehn Wochen vor Kinostart präsentiert –, wovon das Seherlebnis massiv profitiert.
Natürlich kann und sollte der Film von seinen unerwarteten Twists und Auftritten nicht alleine leben. Letztlich ist dies Tom Hollands Spider-Man-Universum und sein Story-Arc steht im Vordergrund. Erfreulich ist, dass das Werk seine Reise als Superheld in gewisser Hinsicht „abschließt“ – eine mögliche Rückkehr ist dennoch sicherlich zu erwarten –, und die Figur erwachsen werden lässt. Waren die Vorgänger noch von einem gewissen infantilen Spaß geprägt und als High-School- oder Roadtrip-Komödien konzipiert, muss Spider-Man nun erstmalig wirklich eigenverantwortlich handeln und die vollen Konsequenzen seiner Aktionen tragen. Auch wenn der Auslöser für das Multiversen-Chaos etwas konstruiert wirkt, so ist das Finale diesbezüglich umso konsequenter. Das bittersüße Ende präsentiert uns einen erwachsenen Heroen, für den es – wie der Titel es bereits verrät – keinen Weg mehr zurückgibt. Inwiefern zukünftige Filme hier anknüpfen werden, ist reine Spekulation. Die Mid-Credits-Szene, die eine weitere Kreuzung eines Universums präsentiert, lässt aber die Interpretation und damit Hoffnung zu, dass Hollands Spidey dem MCU erhalten bleibt, auch wenn er nach Auftritten in bisher sechs Filmen – von „The First Avenger: Civil War“ („Captain America: Civil War“, 2016) über „The Avengers: Infinity War“ (2018) bis zu „Spider-Man: No Way Home“ – vielleicht erst einmal eine Pause einlegt, um den zahlreichen neuen Helden mit Filmen wie „Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings“ (2021) oder den „The Eternals“ (2021) etwas Platz zu machen.
Möchte man abschließend tatsächlich etwas kritisieren, so muss man sicherlich lange suchen. Man spürt leider, dass gewisse Szenen oder Einstellungen wohl unter einer solchen Geheimhaltung inszeniert werden mussten, dass sie manchmal irritierend klein oder zeitweise etwas berechnend wirken, so als ob alle Darsteller nicht immer persönlich anwesend waren oder eher sein durften. Gemessen an der inhaltlichen Bedeutung ihrer Auftritte, ist dies aber zumindest produktionstechnisch verständlich. In einem Zeitalter, in dem regelmäßig hochauflösende Setfotos von bedeutenden Momenten noch in Produktion befindlicher Filme geleakt werden – was bedauerlicherweise auch hier der Fall war –, kann es kaum eine zu kleine Geheimhaltung geben.
Mit „Spider-Man: No Way Home“ umarmt das Marvel Cinematic Universe nicht nur vollends das sogenannte Multiversum, sondern lässt einen seiner wichtigsten Helden in einem der besten Werke der Filmreihe erwachsen werden. Was sich auf dem Blatt Papier wie ein zwar kalkuliertes, aber absolutes Chaos lesen musste, wird inszenatorisch und dramaturgisch elegant ausbalanciert. Große Actionszenen treffen auf verblüffend intime Charaktermomente, die den Mut haben sogar Protagonisten außerhalb der eigentlichen Filmreihe einen würdigen Abschluss zu geben und bekannte Antagonisten neu zu erfinden, und „gestreamlinetes“ Popcorn-Kino für die Masse wird mit vollkommen unerwarteten Wendungen vermischt. Die gesamte etablierte Mythologie des Universums wird hierbei nicht nur zelebriert, sondern als tragender Teil der Dramaturgie herangezogen. Man hat den Zuschauer nun an einen Punkt gebracht, an dem er die ganze Bandbreite der Comic-Vorlagen endgültig akzeptieren wird. Sony Pictures und Marvel Studios ist mit „Spider-Man: No Way Home“ ein über-phantastisches Kunststück gelungen, dass die Franchise neu definieren wird.
‐ Markus Haage
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