Werbung

Joker (USA, 2019)

verfasst am 13.Oktober 2019 von Markus Haage

(© Warner Bros. Entertainment Inc.)

Todd Phillips‘ eigenwillige Comic-Adaption zeigt auf, dass das große Eventkino mehr zu bieten hat, als nur noch auf Hochglanz polierte, durchstrukturierte Massenware für einen globalen Markt. Eventfilme dürfen wieder rücksichtslos anecken, unbequeme Fragen stellen, den Zuschauer provozieren, mit Konventionen brechen und auch schlichtweg hässlich sein. Für Genrefilm-Fans stellt „Joker“ somit eine Offenbarung dar. Für das Massenpublikum wohl eine Herausforderung und Provokation.

Offizielle Synopsis: Für immer allein in der Menge, sucht Arthur Fleck nach Anschluss. Doch während er die verrußten Straßen von Gotham City durchstreift und mit den graffitiverschmierten Zügen des Transitverkehrs durch eine feindselige Stadt voller Spaltung und Unzufriedenheit fährt, trägt Arthur zwei Masken. Die eine malt er sich täglich für seine Arbeit als Clown auf. Die andere kann er niemals ablegen; sie ist die Verkleidung, die er trägt, in seinem vergeblichen Versuch, sich als Teil der Welt um ihn herum zu fühlen und nicht wie der missverstandene Mann, den das Leben immer wieder niederstreckt. Doch jedes Mal, wenn er von Teenagern auf der Straße drangsaliert, von Anzugträgern in der U-Bahn verspottet oder einfach nur von seinen Arbeitskollegen gehänselt wird, entfernt sich der soziale Außenseiter einen Schritt weiter von seinen Mitmenschen.

Der Versuch ein Grinsen aufzusetzen.
(© Warner Bros. Entertainment Inc., Foto: Niko Tavernise)

Wie in der Filmhandlung zu „Joker“, besitzt der titelgebende Protagonist auch in seinen Comicvorlagen viele Väter. Die Figur wurde stets weiterentwickelt, teils radikal verändert und neu interpretiert. Der Film, ein kleines Meisterwerk, welches in dieser Machart gar nicht existieren dürfte, zollt dieser jahrzehntelangen Entwicklung Respekt und bedient sich aus einem ganzen Pool an Vorbildern. „Joker“ erinnert nicht nur an die größten Zeiten des New Hollywoods der 1970er-Jahre, sondern auch an das New Yorker Independent-Kino der 1980er, wie etwa William Lustigs „Maniac“ (1980) oder Frank Henenlotters „Basket Case – Der unheimliche Zwilling“ („Basket Case“, 1982). Sie alle finden sich hier wieder und werden mit einer hyperrealistischen Comic-Welt verwoben, in der Gotham City am Rande des gesellschaftlichen Kollaps steht. Die große Referenz auf das New York City der 1980er ergibt nur Sinn. Stand der reale Großstadtmoloch doch schon für die Comicvorlage von Gotham als auch deren Umsetzung in anderen Werken Pate. Demnach ist es auch nur konsequent, dass vor allem Martin Scorseses Klassiker „Taxi Driver“ (1976) und „The King of Comedy“ (1982) zitiert werden. Die inhaltlichen Parallelen sind kaum zu übersehen, aber auch optisch zollt der Film Scorseses Werken Tribut. Nicht nur wird ein Rollentausch vorgenommen, Robert De Niro tritt nun als Showmaster Murray Franklin auf, während er vierzig Jahre zuvor in „The King of Comedy“ noch den Stalker mimte, der den Showmaster (Jerry Lewis) auflauerte und unter Gewalt zwang in dessen Fernsehsendung aufzutreten, auch Jokers Outfits erinnern in einzelnen Szenen an Travis Bickles (Robert De Niro) Kostümierung aus „Taxi Driver“. Zeitweise war Martin Scorsese gar als Produzent des Films im Gespräch.

Die Referenzen auf die ursprüngliche Comicwelt, aus der der Joker entsprang, sind natürlich nicht minder gesät, wenn auch weitaus freier umgesetzt. „Joker“ zieht seine Inspiration aus zahlreichen unterschiedlichen Interpretationen. Sei es Alan Moores wegweisendes Graphic Novel „Batman: Lächeln, bitte!“ („Batman: The Killing Joke“) von 1988 oder Andrew Vachss‘ weniger bekannten Roman „Batman: The Ultimate Evil“ aus dem Jahre 1995. Bereits frühzeitig wird der Zuschauer mit Arthur Flecks Sozialarbeiterin Debra Kane konfrontiert. Debra Kane war in „Batman: The Ultimate Evil“ ebenfalls eine Sozialarbeiterin, die Bruce Wayne auf die Taten eines Pädophilen-Netzwerkes aufmerksam machte. Nicht zufällig dürfte Regisseur Todd Phillips diese Charakterin prominent im Film verwenden, auch wenn ihr hier eine weitaus passivere Rolle zukommt. Für Kenner der Welt des Dunklen Ritters stellt sie aber weitaus mehr als nur eine bloße Referenz auf die zahlreichen Interpretationen Gotham Citys dar. Sie ist der erste zaghafte Hinweis auf die dunkelsten Abgründe, die den Zuschauer erwarten.

Zazie Beetz als Sophie neben Joaquin Phoenix als Arthur.
(© Warner Bros. Entertainment Inc., Foto: Niko Tavernise)

Todd Philipps hüllt seinen Film in eine visuelle Rauheit, wie man sie seit den Hochzeiten des 16mm-Dokumentarfilms nicht mehr gesehen hat, in der jedes kleine Detail die schroffe Wirklichkeit darstellt. Verdreckte Nikotinfinger, abgekaute Fingernägel, fehlende Backenzähne, graue Haaransätze, vergilbte Tapeten. Selbst der schlechte Körpergeruch einiger Charaktere scheint sich auf der Leinwand zu visualisieren. Doch auch in den Dreckspfützen der Schlaglöcher spiegelt sich eine gewisse verstörende Schönheit wider, die von Kameramann Lawrence Sher in teils atemberaubenden Bildern eingefangen wird. Eine zerrissene Welt, die sich im Charakter Arthur Fleck wiederfindet. Das Leben von Arthur Fleck ist trist, ohne Freude oder Hoffnung. Doch ohne, dass der Zuschauer es anfangs merkt, wird dieser nach und nach in Arthurs Welt gezogen. Eine Scheinwelt, die nur wenige glückliche Momente vortäuscht. Der raffinierte Schnitt bricht unentwegt mit den erzählerischen Konventionen des Superheldenkinos. Immer, wenn der Zuschauer glaubt, dass Regisseur Todd Phillips der klassischen Comicbuch-Narrative folgt und auf einen Event-Höhepunkt zusteuert, unterwandert er diese Erwartungen vollkommen. Dies gilt sogar für das große Finale, welches einfach, aber pointiert ausfällt. Bemerkenswert ist der Bruch der Charaktere. In diesem Gotham City existieren keine klassischen guten und böse Figuren. Alles bewegt sich in den Schatten, besteht aus Grautönen. Selbst der Übervater Gothams, Thomas Wayne (Brett Cullen), noch in Christopher Nolans „Batman begins“ (2005) als selbstloser Philanthrop mit sozialem Gewissen dargestellt, erhält nun eine dunkle Seite, die letztlich nur ehrlich, weil differenziert, ist. Der Zuschauer wird mit Themen konfrontiert, die in aller Konsequenz nur der Realität entspringen. Nichts im Film wäre undenkbar. Schon gar nicht, wenn man sich dem realen Vorbild bewusst ist. Demnach dürfte es nur in der Natur des Werks liegen, dass es polarisieren wird. Menschen gehen in das Kino, um primär der Realität zu entfliehen. Der aktuelle Superhelden-Film bietet ihnen das. Fremde Welten, übernatürliche Bedrohungen, kleine Helden, mit denen wir uns identifizieren können, verbringen große Taten. Eskapismus eben. „Joker“ konfrontiert den Zuschauer aber gnadenlos mit der Wirklichkeit – auch wenn sich für ein deutsches oder europäisches Publikum bestimmte soziale, politische und kulturelle Verweise vielleicht nicht zwingend vollends offenbaren werden –, und diese Realität ist düster.

Der „King of Comedy“, Robert De Niro, kehrt zurück.
(© Warner Bros. Entertainment Inc., Foto: Niko Tavernise)

Wie konsequent düster der Film ist, zeigt sich in einer Schlüsselszene, die es gar auf das Hauptplakat geschafft hat. Zu den Klängen von Gary Glitters „Rock and Roll Part 2“ aus dem Jahre 1972 stolziert der Joker eine Treppe hinunter. Seine Metamorphose ist nun vollkommen. Er hat seine Vergangenheit, sein Leid, seinen Schmerz nicht abgelegt, sondern akzeptiert diesen vollends. Eine neue Identität wurde geschaffen. Im Kontext des Films ergibt dies nur Sinn. Als Kind wurde er physisch als auch psychisch misshandelt. Es wird extrem stark impliziert, dass er auch sexuell missbraucht und von seiner Mutter verkauft wurde. Als Erinnerung der Verweis auf die Figur Debra Kane. Zum Eigenschutz baute er sich eine andere Identität auf, verdrängte bewusst das Leid, das ihm widerfahren ist und floh verstärkt in eine Scheinwelt. Arthur Fleck existierte nie wirklich. Er wurde adoptiert, missbraucht und in einer Welt von Lügen von einer psychisch gestörten Pflegemutter großgezogen. Er weiß nicht, wer er war oder ist, wer er hätte sein können oder woher er überhaupt kommt; besitzt kein Zuhause, keine Heimat. Der Joker ist seine erste eigene Identität, ein Arsenal aus allem erlebten Schmerz. Eben sein wahres Ich, das Resultat allen Leids, welches über Jahrzehnte geformt und durch Medikamente, Psychoanalyse und Verdrängung unterdrückt wurde. Und das diese wahre Persönlichkeit zu einem triumphierenden Rocksong eines in der realen Welt inhaftierten Pädophilen die Treppen hinunter stolziert, ergibt auf künstlerischer Ebene absolut Sinn, auch wenn es gemessen an den Reaktionen der Kritiker für viele Zuschauer eine schwer ertragbare Provokation darzustellen scheint. Er raubt den Song eines Vergewaltigers und macht sich ihn als Opfer zu Eigen. Nichts kann ihm mehr etwas anhaben. Auch nicht der ihm angetane Schmerz, der sexuelle Missbrauch, für dessen Verdrängung er zum Schutz eine neue Identität und eine Scheinwelt errichtete. Er umarmt nun das Leid zu den jubelnden Tönen eines Gary Glitters. Arthur Fleck ist tot, hat vielleicht nie existiert, lang lebe der Joker.

Der Joker ist geboren.
(© Warner Bros. Entertainment Inc., Foto: Niko Tavernise)

Joaquin Phoenix spielt Arthur Fleck mit einer Kraft, wie man sie seit Jahren nicht mehr auf der großen Leinwand gesehen hat. In ruhigen Momenten teils differenziert und subtil, aber mit einem sich steigernden Aufbau, der letztlich in einer vollkommenen Transformation endet. Bereits das Lachen von Arthur zeigt Phoenix‘ brillante Schauspielkunst auf, wenn dieses anfänglich hysterisch ungewollt herausstößt und nach wenigen Sekunden in einen nicht zu unterdrückenden physischen als auch psychischen Schmerz übergeht. In die pathologisch erzwungene Freude, die der Charakter nicht unterdrücken oder kontrollieren kann, mischt sich eine sichtliche Scham und Qual, die die Zerrissenheit der Figur aufzeigt und in dieser Intensivität vielleicht nur von Phoenix hätte dargestellt werden können. Gegenüber Phoenix‘ Spiel verblassen die anderen Charaktere etwas, wobei sie tatsächlich eher als „Supporting Actors“ betrachtet werden sollten. Dieser Film gehört ganz alleine ihm und die Wandlung seiner Figur. Eine Origin-Story im wahrsten Sinne des Wortes. Dies ergibt sogar inhaltlich Sinn, da der Zuschauer bis zum Ende nicht vollends weiß, was nun Realität oder Schein war.

Die Wandlung ist vollkommen.
(© Warner Bros. Entertainment Inc., Foto: Niko Tavernise)

Die Konfrontation des Publikums mit dieser Geschichte war sicherlich nur durch einen Trick machbar. Todd Phillips nutzt das Image des Superheldenfilms und eines seiner populärsten Antagonisten, um die Zuschauer mit wohl falschen Erwartungen in die Kinos zu locken. Eine gewisse Ironie. Durch die Eventisierung des Kinofilms, zudem die Superhelden maßgeblich beitrugen, ist ein Film wie „Joker“ eigentlich kaum noch denkbar. Doch durch die Marke „Joker“ konnte ein Fundament geschaffen werden, dass den Zuschauer unter falschen Erwartungen mit einer anderen Art von Film ohne Vorwarnung konfrontiert, die heutzutage, wenn überhaupt, nur noch auf Genrefilm-Festivals, wie dem Fantasy Filmfest, stattfindet oder von Drop-Out Cinema als limitierter Run in die Nischenkinos gebracht wird. Ähnlich wie Phoenix‘ grandioser „A beautiful Day“ („You Were Never Really Here“, 2017), der inhaltlich als auch inszenatorisch gewisse Parallelen zu „Joker“ besitzt. So mahnt „Joker“ auch an eine Zeit, in der das Kino unbequeme Meisterwerke hervorbrachte, die das Publikum nicht nur unterhalten, sondern eben auch herausfordern wollten.

„Joker“ ist ein kompromissloser Genrefilm, welcher in der heutigen Kinolandschaft gar nicht mehr existieren und das vom durchstrukturierten Eventkino geplättete Massenpublikum überfordern dürfte. Die Polarisierung ist damit vorprogrammiert. Nicht nur beim Publikum, sondern auch bei den Kritikern. Und dies ist wohl das größte Geschenk, welches Cineasten im Jahre 2019 erhalten konnten. Endlich wieder ein Film, der zählt. Endlich wieder ein Film, der einen echten Unterschied macht. Die einen werden ihn lieben, die anderen werden ihn hassen, manche werden oder wollen ihn nicht verstehen. Das vielleicht größte Kompliment für die Filmemacher.

Markus Haage

Werbung
Produkt bei Amazon.de bestellen!
Über Markus Haage 2282 Artikel
Mein Name ist Markus Haage, Chefredakteur und Herausgeber vom Neon Zombie-Magazin. Es gibt nicht sonderlich viel spektakuläres über mich zu erzählen. Ich führe ein sehr langweiliges Leben. Aber falls es doch jemanden interessiert, freue ich mich immer über einen Besuch meiner Website www.markus-haage.de! Danke im Voraus!