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Das Leid des Arthur Fleck: Ein Joker zwischen Thomas Wayne und Gary Glitter

verfasst am 13.Oktober 2019 von Markus Haage

Bereits kurz nach der Veröffentlichung von Todd Phillips‘ „Joker“ in den us-amerikanischen Kinos, ging eine Empörungswelle durch die Medien. Vom Business Insider über die TAZ bis zum Stern war man darüber empört, dass der Song „Rock n Roll Part 2“ vom britischen Glam-Rocker Gary Glitter an einer markanten Stelle des Films zu hören ist. Der Song aus dem Jahre 1972 wird seit Jahrzehnten in Spielfilmen und in den USA besonders zu Sportveranstaltungen als Anheizung des Publikums genutzt. Es ist ein triumphierender Song, der motivieren soll. Das Problem: Gary Glitter, im realen Leben Paul Francis Gadd, ist ein mehrfach wegen Kindesmissbrauchs verurteilter Sexualstraftäter. Unter vielen Kritikern bestand die berechtigte Angst, dass Glitter, der derzeit im Alter von 74 Jahren eine 16-jährige Haftstrafe in Großbritannien wegen Vergewaltigung absitzt, von der Verwendung des Songs profitieren könnte. Der Rolling Stone rechnete gar aus, wie viele Tantiemen Glitter theoretisch zustehen könnten. Zumindest bezüglich des Verdienstes muss man sich aber gar keine Sorgen machen, denn wie die Los Angeles Times recherchierte, wird Glitter keinen einzigen Cent für die Verwendung des Musikstücks erhalten. So schrieb sie:

“Gary Glitter does not get paid,” said a spokesman for Snapper in London who asked to remain anonymous. “We’ve had no contact with him.” The song consistently attracted filmmakers and TV showrunners long before “Joker,” landing in “Meet the Fockers,” “Boyhood,” “South Park” and “The Office.” “People generally come to us,” added the spokesman. “We don’t promote it at all.”

Die Aufregung im Vorfeld war demnach wohl umsonst, wobei man aber natürlich generell eine Debatte um die Verwendung von Kunstwerken von verurteilten Schwerverbrechern führen kann. Es wäre wohl in erster Linie eine rein moralische Diskussion, aber legitim wäre diese natürlich. Das Problem bezüglich des Films „Joker“ ist allerdings, dass einige Kritiker anscheinend vergessen haben, worum es in der Adaption letztlich geht. „Joker“ ist ein ambivalenter Film, der den Zuschauer täuscht und durch einen hyperrealistischen Anspruch die tiefsten Abgründe unserer Gesellschaft offenbart. Für eine Comicbuch-Verfilmung ein Novum. Vielleicht ruft gerade dieser Umstand die harschen Reaktionen hervor. In „Joker“ wird der Zuschauer unvorbereitet mit Themen konfrontiert, die er im Zeitalter des politisch korrekten Eventkinos nicht erwartet hätte. Insbesondere bei einer Comicbuch-Verfilmung. Es findet kein Eskapismus, sondern eine Konfrontation statt. Diese Provokation ist gewollt, auch wenn sie verschachtelt daherkommt.

Es folgen Spoiler für die Filmhandlung, die in Gedanken und persönlichen Interpretationen eingebettet sind.

Ein Joker ward geboren.
(© Warner Bros. Entertainment Inc., Foto: Niko Tavernise)

Arthur Fleck, brillant gespielt von Joaquin Phoenix, ist eine geschundene Seele. Als Kind wurde er physisch als auch psychisch missbraucht. Der Missbrauch fand auch auf sexueller Ebene statt. Die Erinnerungen an den grausamen Schmerz verdrängte Arthur, indem er sich in eine Scheinwelt floh, deren Fundament aus Medikamenten und Psychoanalyse bestand. Bereits in einer der ersten Szenen wird Arthurs Sozialarbeiterin eingeführt, die ihn betreuen und helfen soll. Ihr Name ist Debra Kane. Kenner des Batman-Universums wissen um diesen Nebencharakter. Erstmalig tauchte sie im Roman „Batman: The Ultimate Killing“ aus dem Jahre 1995 auf. Durch ihre Recherche deckt sie einen Pädophilen-Ring in Gotham City auf, den Batman jagt und niederschlägt. Im Verlauf der Handlung findet man heraus, dass dieses Netzwerk von der High Society Gothams maßgeblich mitgetragen wurden. Die Verwendung von Debra Kane als Sozialarbeiterin in „Joker“ kann demnach kein Zufall sein.

Arthur Fleck, von allen missbraucht.
(© Warner Bros. Entertainment Inc., Foto: Niko Tavernise)

Im Verlauf der Handlung von „Joker“ erfahren wir, dass Arthurs Adoptiv-Mutter, selber schizophren, den sexuellen Missbrauch von Arthur durch einen „Freund“ in ihrer eigenen Wohnung duldete. Die Obsession von Arthurs „Mutter“ Penny mit Thomas Wayne, Vater von Bruce Wayne, spielt hierbei vielleicht auch eine Rolle. Sie will ihm gefallen, erfindet Geschichten über eine gemeinsame Beziehung und bezeichnet ihn sogar als Vater von Arthur. Zumindest biologisch ist dies wohl gelogen. Geistig aber auch? Hat Thomas Wayne eine der schlimmsten Verbrechen begangen und damit in aller Konsequenz den Joker erschaffen? Es wäre eine bitterböse Poesie. So wäre Thomas Wayne der biologische Vater von Batman und der geistige Vater vom Joker. Der Film gibt hierauf natürlich keine klare Antwort und es wird nicht vollends impliziert. Vieles bleibt im Dunkeln, wird nur angedeutet oder als Wahrheit hingestellt, um wenige Minuten später wieder als Lüge enttarnt zu werden. Es scheint nicht so, als gäbe es hierfür eine echte Basis oder Absicht, ansonsten würden wohl auch die Macher des Films darüber sprechen. Zumindest kann man aber Andeutungen finden, wenn man sie finden will. Die Identität des „Freunds“, der Arthur in Pennys eigener Wohnung missbrauchte, wird nie enthüllt. Auch die Polizei nennt diesen in einem Verhör nicht beim Namen. Des Weiteren weist Penny als ehemalige Mitarbeiterin von Wayne Enterprises darauf hin, dass Thomas Wayne eine der mächtigsten Menschen von Gotham ist und enorm viel Einfluss ausüben kann. Dies war zwar in Bezug auf die biologische Vaterschaft, aber vielleicht deckt Wayne einen Freund oder Bekannten. Hier könnte der Bezug zur ursprünglichen Figur von Debra Kane greifen. Denn auch Thomas Wayne ist das Leid der Mittellosen letztlich egal. Und ob Arthur seine Medikamente vom Staat noch erstattet bekommt oder nicht, scheint für ihn zweitrangig zu sein. Diejenigen, die gegen diese sozialen Gerechtigkeiten aufbegehren, bezeichnet er selber als Clowns, auch wenn dies im Kontext von drei Morden geschah. Das ist natürlich alles Interpretation und Spekulation, zeigt aber eben auf, wie schwer greifbar und komplex bestimmte Themen des Films sind. Am sexuellen Missbrauch durch den ominösen „Freund“ ändert dies aber nichts.

In diesem Kontext spielt auch das anfangs kritisierte Lied „Rock and Roll Part 2“ eine besondere Bedeutung. Zu Gary Glitters Klängen stolziert der Joker eine Treppe hinunter. Seine Metamorphose ist nun vollkommen. Er hat seine Vergangenheit, sein Leid, seinen Schmerz nicht abgelegt, sondern akzeptiert diesen vollends. Eine neue Identität wurde geschaffen. Arthur Fleck existierte nie wirklich. Er weiß nicht, wer er war oder ist, wer er hätte sein können oder woher er überhaupt kommt; besitzt kein Zuhause, keine Heimat. Der Joker ist seine erste eigene Identität, ein Arsenal aus allem erlebten Schmerz. Eben sein wahres Ich, das Resultat allen Leids, welches über Jahrzehnte geformt und durch Medikamente, Psychoanalyse und Verdrängung unterdrückt wurde. Und das diese wahre Persönlichkeit zu einem triumphierenden Rocksong eines in der realen Welt inhaftierten Pädophilen die Treppen hinunter stolziert, ergibt auf künstlerischer Ebene absolut Sinn, auch wenn es gemessen an den Reaktionen der Kritiker für viele Zuschauer eine schwer ertragbare Provokation darzustellen scheint. Er raubt den Song eines Vergewaltigers und macht sich ihn als Opfer zu Eigen. Nichts kann ihm mehr etwas anhaben. Auch nicht der ihm angetane Schmerz, der sexuelle Missbrauch, für dessen Verdrängung er zum Schutz eine andere Identität und eine Scheinwelt errichtete. Er umarmt nun das Leid zu den jubelnden Tönen eines Gary Glitters. Arthur Fleck ist tot, hat vielleicht nie existiert, lang lebe der Joker.

Die Verwendung von „Rock and Roll Part 2“ zu kritisieren, ist verständlich. Insbesondere dann, wenn nicht vollends geklärt ist, ob Gary Glitter daran noch verdient. Anscheinend nicht. Rein künstlerisch betrachtet, ist die Verwendung aber von fundamentaler Bedeutung. Die Täter haben ein Monster erschaffen, dass sich ihre Klänge zu eigen macht. Das Leid, das Arthur Fleck angetan wurde, wird nun auf die Gesellschaft übertragen. Und diese kann dem nicht mehr entfliehen. Der Joker will keine Revolution anführen. Er stellt keine Forderungen, besitzt keinen Plan. Es gibt kein Nachspiel. Er leitet eine Art von Apokalypse ein. Glitters Werk wird in „Joker“ nicht geehrt, sein Schaffen wird mit dem Leid assoziiert. Es ist die Marschmusik in die Apokalypse, und Glitter einer der Komponisten des Grauens.

Markus Haage

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Mein Name ist Markus Haage, Chefredakteur und Herausgeber vom Neon Zombie-Magazin. Es gibt nicht sonderlich viel spektakuläres über mich zu erzählen. Ich führe ein sehr langweiliges Leben. Aber falls es doch jemanden interessiert, freue ich mich immer über einen Besuch meiner Website www.markus-haage.de! Danke im Voraus!