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Bird Box: Wie Netflix die Kulturlandschaft beeinflusst

verfasst am 8.Januar 2019 von Markus Haage

„Bird Box“ von Netflix bricht alle Rekorde. Angeblich. Ein paar Gedanken (und Fragen) über unverifizierte Erfolgsmeldungen privatwirtschaftlicher Unternehmen.

Die Medienlandschaft verändert sich drastisch. Während die traditionellen Medien immer mehr Zuschauer verlieren, setzen sich Streaming Services, die vom Grundprinzip her dem klassischen Pay-TV ähnlich sind, bei allen Altersgruppen immer stärker durch. Netflix als bekanntester Vertreter hat erst letztes Jahr angekündigt, mehr als 13 Milliarden Dollar in neuen Content zu investieren. Hauptsächlich Serien – mittlerweile hat Netflix über eintausend Eigenproduktionen im Programm –, aber eben auch eigene Filmproduktionen. Diese Filmproduktionen gehen in der Flut an Serien teils vollkommen unter. Bemerkenswert ist, dass viele dieser Filme sich Thematiken des Phantastischen Kinos widmen. Eben Science-Fiction, Horror, Fantasy. Sei es „Bright“ (2017), „How it ends“ (2018) oder „Extinction“ (2018). Nicht all diese Filme sind Eigenproduktionen, manche, wie etwa „The Cloverfield Paradox“ (2018), werden von großen Studios direkt eingekauft. Zum Jahresende präsentierte Netflix allerdings abermals eine Eigenproduktion, die sich dem Endzeit-Thema bedient: „Bird Box“ (2018) von der dänischen Regisseurin Susanne Bier. Sandra Bullock muss sich mit verbundenen Augen (und ihren Kindern) durch eine post-apokalytpische Welt schlagen, in der unbekannte Wesen die Menschen in den Wahnsinn und Selbstmord treiben, sobald sie diese erblicken. Eine Mischung aus „The Happening“ (2007) und „A Quiet Place“ (2018). Das Projekt ließ sich Netflix rund zwanzig Millionen US-Dollar kosten.

Sandra Bullock schleicht sich mit Vivien Lyra Blair und Julian Edwards durchs Geäst.
(Foto: Saeed Adyani, © Netflix)

Die ursprünglichen Reaktionen auf den Film erschienen eher verhalten gewesen zu sein. Möchte man populäre Rating-Seiten als Indikator ansehen (die sicherlich auch nicht frei von Beeinflussungen sind), so kommt man schnell zur Erkenntnis, dass es sich bei „Bird Box“ um einen eher durchschnittlichen Genrefilm handelt. Auf Rotten Tomatoes beträgt die Wertung 62%, in der IMDb immerhin 6,8 (von 10) und auf Metacritic misst der sogenannte Metascore gar nur 52 von 100 möglichen Punkten. Neben der üblichen Review-Welle konnte der Film keine außerordentlichen Reaktionen abrufen. Er kam und ging. Sicherlich liegt dies auch in der Präsentation begründet. Netflix-Filme schaut man eben in seinen eigenen vier Wänden. Sie besitzen keinerlei traditionellen Event-Charakter. Man trifft sich eben nicht mit Freunden oder Verwandten, um den Film im Kino mit vielen anderen Menschen zu sehen. Auch wenn sich das Neon Magazin vom Stern bei der Verbreitung des simplen Trailers in ihrer Überschrift schon am 21. Dezember (dem Veröffentlichungstag) sicher war, dass „dieser Horrorthriller mit Sandra Bullock zum Streaming-Hit wird“waren die Reaktionen auf das Werk auch unter Berücksichtigung des nüchternen Kontexts der Präsentation eher verhalten (siehe Ratings). Zumindest bis eine (subjektiv außerordentlich empfundene) Welle an Memes über das Netz rollte …

Kurz nach dem Filmstart auf Netflix poppten auf populären Meme-Seiten immer mehr Memes zu „Bird Box“ auf. Sie waren nicht besonders kreativ oder witzig und gerade deswegen irritierend in ihrer vermeintlichen Popularität. Bereits am Startwochenende fiel mir dies auf der Website 9gag.com persönlich besonders stark auf. Dies war natürlich ein rein subjektives Empfinden. Anscheinend war ich aber nicht die einzige Person, die von der Masse und vermeintlichen Beliebtheit der Memes verwirrt gewesen ist. So merkte die Kulturkritikerin Emily Yoshida via Twitter an, dass kurz nach Veröffentlichung ihres Reviews die Kommentarspalte mit Memes regelrecht geflutet wurde, so als ob jemand diese vorab vorbereitet hätte (interessant in diesem Zusammenhang ist übrigens auch die Überschrift ihrer Kritik: „Bird Box Wasn’t Written by an Algorithm — But It Sure Feels Like It Was“).

Einige Tage später beobachtete Slashfilm.com dies ebenfalls und stellte hierbei die simple Frage: „Is Netflix creating Bird Box memes?“ Es würde Sinn ergeben, wenn Netflix dies tun würde. Es stellt quasi Gratis-Werbung dar. Es wäre in diesem Zusammenhang genauso gut denkbar, dass zumindest auf populären Meme-Seiten die Bird-Box-Memes als Werbemaßnahme künstlich gepusht wurden. Dies wäre allerdings reine Spekulation, da wohl kaum eine Meme-Seite, die vor allem von User-Content lebt, dies zugeben würde. Das allerdings von offizieller Stelle nachgeholfen wurde, erscheint zumindest logisch. Die meisten Bird-Box-Memes sind recht unspektakulär. Sie referenzieren Momente aus dem Film, die keine nennenswerte Bedeutung haben. Normalerweise zeichnet sich ein Meme durch eine bestimmte Besonderheit aus. Es setzt sich beispielsweise satirisch mit gesellschaftlichen, ökonomischen, kulturellen oder politischen Ereignissen auseinander oder verweist auf spezielle Momente in populären Kulturprodukten (Filme, Serien und Musik). All dies war bei „Bird Box“ nicht der Fall. Der Film war wenige Stunden alt und erhielt, wie erwähnt, keine außergewöhnlichen Reaktionen. Die Memes wirkten zudem inhaltlich stark erzwungen. Ihr bloße Präsenz machte sie hingegen relevant. Oder zumindest wirkte es, als wollte man durch die schiere Masse an Memes eine Relevanz erzwingen. Und dies gelang anscheinend auch.

Es dauerte nicht sehr lange bis selbst große (und seriöse) Nachrichtenportale über die Bird-Box-Memes berichteten. Vom britischen Mirror („Best Bird Box memes that got us laughing because they’re spot on“) über der Cosmopolitan („Having A Bad Day? These Memes Inspired By Netflix’s „Bird Box“ Are Here To Help“) bis hin zu CNN („‚Bird Box‘ memes are a hoot“), sie alle berichteten darüber. Der Nachrichtenwert? Eigentlich keiner. Der Werbeeffekt? Gigantisch. Und so rollte eine irritierende Welle an Reaktionen auf den Film über das digitale Land, die wiederum von Medien aufgegriffen und somit weiterverbreitet wurde. Es starteten sogar sogenannte „Bird Box“-Challenges, in denen YouTuber mit verbundenen Augen sich durch Alltagssituationen schlagen sollen. Dies wiederum veranlasste Netflix dazu vor dieser Challenge eindringlich zu warnen, damit sich ja niemand dabei verletzen würde.

Der Münchner Tageszeitung war dies sogar einen Artikel wert („Netflix warnt: Film stiftet User zu gefährlichem Trend an“), genauso wie der BILD („Netflix warnt vor „Bird Box“-Challenge“) und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung („Netflix warnt vor „Bird Box“-Challenge“). Somit wurde das „Phänomen“ der „Bird Box“-Challenge aufgrund ihrer vermeintlichen Popularität wiederum von seriösen Medien in ihrer Berichterstattung weiterverbreitet. Sogar die Tagesschau berichtete darüber.

Aber stellte diese Challenge überhaupt ein Phänomen dar? Wir wissen es nicht genau. PR-Agenturen bezahlen natürlich auch YouTuber dafür, Videos mit bestimmten Inhalten zu produzieren. Dies ist keine neue Erkenntnis, sondern stellt seit Jahren eine gewisse Normalität dar. Somit wäre es überhaupt nicht verwunderlich, wenn dieser Challenge-Hype ebenfalls künstlich hervorgerufen wäre. Man nehme zehn, zwölf populäre YouTuber, die als Auftragsarbeit eine simple „Bird Box“-Challenge ausführen (selbstredend muss der Filmtitel im Namen der Challenge auftreten; eine Blindfold-Challenge besäße keinen echten Werbeeffekt) und schon entsteht ein Hype. Man hat User (und Bots), die darauf reagieren (gegebenenfalls als Reaktion eben sogar eigenen Content kreieren), und Medien, die wiederum darüber berichten, was eine Art Lawine auslöst, da dies neue User nicht nur das auf Produkt (den Film) aufmerksam macht, sondern auch dazu ermuntert für den eigenen YouTube-Kanal an der Challenge teilzunehmen. Im Grunde Werbung, ohne dass man es als Werbung sofort identifizieren würde. Und dies gilt wie erwähnt selbstredend auch für die Berichterstattung. Wenn seriöse und altehrwürdige Nachrichtenprogramme oder Zeitungen darüber berichten und es so darstellen, als wäre es tatsächlich ein ernst zunehmendes kulturelles Phänomen und kein (ursprünglicher) Marketing-Gag, dann kommt dies quasi einem Ritterschlag gleich. Es muss ja relevant sein. Aber jeder Bericht zu dieser Challenge erwähnt natürlich den (vermeintlichen) Kontext, die Verbindung zum Film. Das sind Werbereichweiten für die man Millionen bezahlen müsste.

 

Ob dies tatsächlich so (oder so ähnlich) war, ist natürlich reine Spekulation. Dieses Beispiel sollte nur veranschaulichen, wie Marketing heutzutage über die sozialen Netzwerke, als auch die traditionellen und seriösen Medien, funktionieren könnte. Natürlich wurde schon immer bei der Werbung getrommelt, aber am Ende musste sich jedes Kulturprodukt dem Zuschauer an der Kinokasse oder vor der Quotenmessung stellen. Dies ist nun nicht mehr zwingend der Fall. Kulturprodukte können zu einem bedeutenden gesellschaftlichen Phänomen vom Produzenten einfach erklärt werden.

Als die ersten Zweifel an der Echtheit der Memes laut wurden, veröffentlichte Netflix via Twitter die Meldung, dass über 45 Millionen User den Film in den ersten sieben Tagen bereits gesehen hätten. Dies wäre tatsächlich ein phänomenaler Erfolg. Netflix hat rund 137 Millionen Subscriber weltweit (Stand: 3. Quartal 2018). Somit hätten mehr als ein Drittel aller User weltweit sich den Film angeschaut. Setzt man diese Zahlen in ein anderes Verhältnis, wäre der Film an den regulären Kinokassen wohl auf dem Level eines Milliarden-Blockbusters wie „The Avengers: Infinity War“ (2018). Natürlich kann keine unabhängige Quelle die Zahlen von Netflix verifizieren. Das Unternehmen ist dafür bekannt, dass sie keine nennenswerten Zahlen veröffentlichen, die den Erfolg oder eben Misserfolg eines ihrer Produkte beziffert. Lediglich die Zahl der Subscriber ist bekannt. Netflix behauptet demnach, dass ihr eigenes, kommerzielles Produkt alle Rekorde brechen würde. Ob dies tatsächlich der Fall ist, ist unbekannt.

Gegenüber Entertainment Weekly sagte ein Netflix-Sprecher, dass ein View nur pro Account und Zuschauer gezählt wird und man dafür mindestens 70% eines Films gesehen haben müsste. Ob dies tatsächlich stimmt, kann aber ebenfalls nicht verifiziert werden. Eine gesunde Skepsis sei auch hier angebracht, da Netflix schon öfters mit recht euphemistischen Aussagen über den Erfolg ihrer Produkte aufgefallen ist. So behauptete Ted Sarandos, der sogenannte Content Chief von Netflix, dass „The Christmas Chronicles“ (2018) der bedeutendste Film in der Karriere von Hauptdarsteller Kurt Russel sei („It’s because, even in his successful career, he’s never had that many people see one of his movies in the first week ever […].“). Angeblich wurde der Film in der ersten Woche rund 20 Millionen Mal gesehen. Für Sarandos ein Grund sich zur Behauptung hinzureißen, dass dies den Wert von 200 Millionen US-Dollar am Box Office entsprechen würde („If every one of those was a movie ticket purchase, that’s a $200 million opening week, […].“). Somit rechnete er die Abrufzahlen von Netflix direkt auf verkaufte Kinotickets um. Würde man dies bei „Bird Box“ tun, so hätte der Film in der ersten Kino-Woche 20 Millionen Dollar mehr eingespielt als „Star Wars: Das Erwachen der Macht“ (2015) in den ersten sieben Tagen. Wie wahrscheinlich wäre das ..?

Dies ist somit natürlich eine Rechnung, die nicht aufgehen kann, da alleine der Kinobesuch weitaus größere Hürden mit sich bringt, als ein simpler Klick auf der Benutzeroberfläche von Netflix in den eigenen vier Wänden. Diese Aussage zeigt aber auf, wie extrem beliebig die Argumentation bezüglich der eigenen Abrufzahlen seitens des Streaming-Konzerns sein kann. Als Nielsen Ratings darauf hinwies, dass die letzte Episode der finalen Staffel von „House of Cards“ (2013–2018), ehemals eine der Prestige-Serien von Netflix, nur noch von rund 900.000 Zuschauern gesehen wurde, erwiderte der Konzern, dass Nielsen lediglich traditionelle Fernsehgeräte in den USA erfassen würde. Dieser Einwand ist absolut legitim, nur geschah diese Bewertung seitens Nielsen eben in einem festen Kontext, die Zahlen wurden mit anderen traditionellen Fernsehprogrammen verglichen. Bei Nielsen Ratings, deren System sicherlich auch nicht perfekt ist, handelt es sich um die älteste und zuverlässigste Quelle für Einschaltquoten in den USA. Auch wenn nicht alle Netflix-Subscriber die Produkte über das TV-Gerät konsumieren, tut dies eben ein signifikanter Anteil, der durchaus als Indikator für den Appeal einer bestimmten Sendung herhalten kann. Im Falle von „House of Cards“ war die Einschaltquote des großen Serienfinales auf TV-Geräten eben überraschend niedrig. Im Frühjahr 2018 veröffentlichte der US-Fernsehsender NBC eine eigene Untersuchung über die Abrufzahlen der Streaming Services und gab bekannt, dass das traditionelle Fernsehen nicht nur mithalten, sondern die Zuschauerzahlen von Netflix und Co. gar übertreffen würde. Natürlich besitzt NBC ein wirtschaftliches Eigeninteresse und Netflix stellt einen direkten Mitbewerber dar, dennoch liefern die Zahlen gewisse Hinweise auf die Popularität bestimmter Netflix-Serien. So soll die Serie „Jessica Jones“ im Schnitt von rund 4,8 Millionen Netflix-Subscribern geschaut wurden sein. Dies ist im US-amerikanischen Kontext für Pay-TV-Kanäle durchaus normal, stellt allerdings eben keinen außerordentlichen Erfolg dar.

Gegenüber dem Business Insider bezeichnete Produzentin Rebecca Green die Meldung vom Zuschauerrekord von „Bird Box“ als reinen Publicity-Stunt, der letztlich den Filmschaffenden sogar schaden könnte. Sie selber wisse nicht einmal, wie oft ihr Horrorfilm „It Follows“ (2014) auf Netflix oder Amazon Prime aufgerufen wurde. Und dies stellt das Kernproblem dar. Es existiert keine neutrale oder objektive Kontrollinstanz mehr. Selbst der Zuschauer nicht. Erst im Juli letzten Jahres schaffte Netflix die eigene Reviewsektion ab, in der Zuschauer die Serien und Filme mit eigenen Kritiken direkt bewerten konnten. Auch wenn diese nicht frei von Missbrauch waren, konnten sie eben einen Einblick in die Meinung der Subscriber geben, woraus man dann immerhin den Appeal eines Programms ablesen konnte. Selbst dies ist nun nicht einmal mehr möglich. Nur die Chefetage weiß, was erfolgreich ist und was nicht. Selbst die Filmemacher wissen es nicht. Kulturprodukte können demnach auch zu Megaerfolgen erklärt werden, obwohl es hierfür keinerlei neutralen oder objektiven Beleg, aber natürlich ein wirtschaftliches Eigeninteresse gibt. Medienkonzerne entscheiden über Erfolg und Misserfolg eines Produktes, können gesellschaftliche Debatten nicht nur anregen, sondern auch beeinflussen und maßgeblich leiten.

Ein Wettbewerb, ein Kampf der kreativsten Köpfe, kann somit nicht mehr stattfinden. Durchschnittliche oder mittelmäßige Kulturprodukte werden aus wirtschaftlichen Eigeninteresse teils vollkommen unverhältnismäßig in den Vordergrund gerückt. Ob überhaupt ein Bedarf nach ihnen oder nach einer Diskussion über sie besteht, spielt eine untergeordnete Rolle. Filme und Serien repräsentierten im besten Fall auch immer ein temporäres Bild einer Gesellschaft. Sie bereiteten alltägliche Probleme auf und stießen gesellschaftliche Debatten an. Ihr Erfolg oder Misserfolg zeigte natürlich auch eine gewisse Resonanz und Bedeutung auf, als auch ein Interesse der Zuschauerschaft an einer Vertiefung der Inhalte eines Kulturprodukts (beispielsweise durch Debattenbeiträge in den Medien). Die Reaktionen auf diesen Erfolg oder Misserfolg waren bedeutend. Selbst eine simple Soap wie „Die Schwarzwaldklinik“ konnte gesellschaftliche Debatten anregen, indem sie Themen verarbeitete, die von einem echten Millionenpublikum gesehen und diskutiert wurden. Und man wusste, der Bedarf an einer Diskussion war real. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust ist in (West-)Deutschland eng mit der Ausstrahlung der US-amerikanischen Miniserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ (1978) verbunden, die eben von einem realen Millionenpublikum geschaut und diskutiert wurde. Nach der Ausstrahlung konnte sich die westdeutsche Gesellschaft einer Aufarbeitung nicht entziehen, eben weil eine echte, verifizierte Resonanz eines Millionenpublikums vorhanden war. Eine echte Debatte konnte aufgrund einer echten Resonanz geführt werden.

„Holocaust“: Die Vergangenheit kommt zurück
Mehr als 20 Millionen Deutsche sahen in der vergangenen Woche „Holocaust“. Die US-Fernsehserie über die Verfolgung und Ermordung der Juden wurde zum Thema der Nation. Bei den Sendern meldeten sich 30000 Anrufer, die Mehrheit bekannte Erschütterung. Ein Medienereignis mit moralischer Wirkung oder nur „ein Strohfeuer“?

Anreißer der Titelstory vom Spiegel 5/79 zur Ausstrahlung der Mini-Serie „Holocaust“

Das System, um Kulturprodukte einem großen Publikum vorzuführen und deren Resonanz und Bedeutung (beispielsweise über Einschaltquoten) zu ermitteln, war sicherlich nie perfekt, es besaß immer einschränkende Tücken und Hindernisse, aber war weitaus ehrlicher. Wir leben mittlerweile in einem Zeitalter, indem Kulturprodukte keinerlei große inhaltliche oder inszenatorische Qualität mehr besitzen müssen. Man behauptet einfach, dass sie bedeutend wären, dass eine starke Resonanz vom Publikum existieren würde. Selbst vielen seriösen Medienmachern bleibt dann kaum eine andere Wahl, um über das neueste kulturelle Phänomen zu berichten, obwohl man eigentlich gar nicht weiß, ob dieses überhaupt real ist, oder die hervorgehobene Beachtung tatsächlich rechtfertigt. Selbstredend kann dies auch bedeuten, dass zum Beispiel eine bestimmte politische Agenda in Kulturprodukten gepusht und durch eine nicht verifizierte Resonanz zu vollkommen unverhältnismäßigen Konsequenzen führen kann. Gerade im politischen Bereich haben wir dies in den letzten Jahren erlebt.

Auch wenn dies die Zuschauerzahlen von Netflix nicht direkt betrifft, sei darauf hingewiesen, dass fast die Hälfte des gesamten Netz-Traffics mittlerweile von Bots stammen sollen. Bots, die liken, sharen, abonnieren, kommentieren, Memes posten, und natürlich auch viewen. Oftmals werden diese von PR-Agenturen genutzt oder gebucht, um Abrufzahlen für Werbung oder auch die Produkte ihrer Klienten zu pushen. Laut einem Artikel der New York Times war das Problem im Jahre 2013 zeitweise so groß, dass YouTube mehr Bots als echte Zuschauer vernahm. Für den Werbemarkt ist dies katastrophal. Werbetreibende lassen die traditionellen Medien links liegen, um Ads auf Facebook zu schalten, obwohl nicht einmal sichergestellt ist, dass die Abrufzahlen auch der Realität entsprechen. Erst im Oktober letzten Jahres reichte eine Gruppe von Werbekunden eine Sammelklage gegen Facebook ein, da der Tech-Gigant die Abrufzahlen seiner Videos drastisch nach oben gepusht haben soll. Zeitweise zählte Facebook einen View nach nur bereits drei Sekunden, obwohl Videos standardmäßig automatisch abgespielt wurden und 85% der User den Ton nicht einmal eingeschaltet haben sollen. Wenn es denn überhaupt echte User waren und eben keine Bots. Die Bots sind, genauso wie unverifizierte Erfolgsmeldungen und Massen-Memes, keine echten Zuschauer, aber ihre Klicks und Views suggerieren dies. Sie können mittlerweile die Kulturlandschaft bestimmen und die Themen diktieren, über die wir als Gesellschaft debattieren. Wir folgen ihnen und ihrem vorprogrammierten, oft von wirtschaftlichen Eigeninteressen gesteuerten „Geschmack“ nicht nur blind, sondern treffen darauf basierend sogar Entscheidungen. Und sei es nur, was wir heute Abend im Fernsehen schauen und worüber wir diskutieren sollten.

Vielleicht stellt „Bird Box“ ein kulturelles Phänomen oder einen nie dagewesenen Megaerfolg dar. Vielleicht auch nicht. Niemand weiß es, außer Netflix. Und wenn es ein Misserfolg war, würden sie es wohl auch nicht sagen.

Markus Haage

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Mein Name ist Markus Haage, Chefredakteur und Herausgeber vom Neon Zombie-Magazin. Es gibt nicht sonderlich viel spektakuläres über mich zu erzählen. Ich führe ein sehr langweiliges Leben. Aber falls es doch jemanden interessiert, freue ich mich immer über einen Besuch meiner Website www.markus-haage.de! Danke im Voraus!