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Netflix und Nischenfilme: Eine Bereicherung für geographisch abgehängte Filmfans

verfasst am 24.Februar 2018 von Markus Haage

Der Aufschrei ist groß: Netflix klaut die besten Filme aus den Kinos! Als Cineast aus der Großstadt kann man dies vielleicht so sehen, aber es gibt eben auch eine andere Seite, die kaum beachtet wird. Ein kleiner Debattenbeitrag (oder auch nur eine andere Perspektive) zum Streit um die Aufführung von Alex Garlands „Annihilation“.

Das Poster zum Film, bereits mit dem Netflix-Logo versehen.
(© Netflix)

Hintergrund: „Annihilation“ wird außerhalb der USA exklusiv auf Netflix gestreamt und nicht ins Kino kommen. Diese Praxis scheint Filmfans zu spalten. Manch einer behauptet, dass „Netflix die besten Filme aus den Kinos klauen würde“, den Anderen ist es schlichtweg egal, weil sie keinen Unterschied mehr zwischen digitalen Kinoleinwänden und digitalen Großbildschirmen machen. Streng genommen ist diese Praxis vom Prinzip her gar nicht unüblich und existierte in abgewandelter Form schon vor Jahrzehnten (Verleiher entschieden, ob sich ein Filmstart in Deutschland lohnt oder nicht, im Zweifelsfall direktes Release auf VHS; besonders bei Filmen des Phantastischen Kinos). Aber darauf will ich gar nicht so sehr eingehen, sondern mal eine etwas andere Perspektive anbieten. Ich finde es immer gut, wenn man Beispiele aus der Realität wählt und solche Debatten sich nicht um romantische Wunschvorstellungen drehen. Nämlich warum mir (und vielleicht auch anderen Landeiern) es leichter fällt, die Release-Praxis von Netflix und Co. zu akzeptieren…

Ich komme vom Land. Weit mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung lebt auf Dörfern und in Kleinstädten. Möchte ich einen Genre- oder Nischenfilm sehen, dann muss ich mindestens neunzig Kilometer mit dem Auto zurücklegen (Hin- und Rückfahrt). Die nächsten Kinos, die ein solches Programm anbieten, befinden sich in Braunschweig oder Magdeburg. In meiner Kleinstadt existiert seit Mitte der 1970er-Jahre (weit vor meiner Geburt) kein Kino mehr (damals: 18.000 Einwohner, heute: 11.000 Einwohner). Ein Kino in der eigenen Stadt kenne ich nur aus Erzählungen der Über-50-Jährigen. Das nächste Kino ist zwölf Kilometer entfernt. Es ist grandios, wird aber nicht hauptberuflich, sondern mit viel (im Grunde schon ehrenamtlichen) Engagement betrieben. Dort läuft größtenteils das große Hollywood-Programm. Absolut verständlich. Für unser Einzugsgebiet (Landkreis Helmstedt) rentiert sich Nische schlichtweg nicht. Seit Juni 2005, also seit 13 Jahren, existiert keine Videothek mehr in meiner Stadt. Seit November 2016 gibt es im gesamten Landkreis (!) keine Videothek mehr. Größere Handelsgeschäfte (Media Markt, etc.) ebenfalls nicht. Das ist einfach nur die Realität. Nicht erst seit gestern, sondern (in Bezug auf die Kinos) seit mehr als vierzig Jahren. Möchte ich also einen aktuellen Nischen- oder Genrefilm konsumieren, muss ich viel Engagement aufwenden, um diesen sehen zu können. Nicht nur Sprit- und Parkkosten, sondern eben auch Zeit, nämlich mindestens zwei Stunden Fahrt für einen 90-Minuten-Film. Das klappt im normalen Arbeits-Alltag sehr selten.

Selbst für ein zeitlich überschaubares Event, wie etwa den Fantasy Filmfest White Nights (zehn Filme an zwei Tagen), düse ich Samstags ab vier Uhr morgens fünf Stunden über die Autobahn, weil ich den Freitag als Arbeitstag nicht entfallen lassen kann. Sonntag Nacht, nach der letzten Vorstellung gegen 0 Uhr, düse ich fünf Stunden über die Autobahn Richtung Heimat zurück und penne dann zwei, drei Stunden, weil ich den Montag als Arbeitstag ebenfalls nicht entfallen lassen kann. Ich kann nicht einfach in eine Straßenbahn steigen und bin dann Zuhause.

Filme wie „Annihilation“, „Das Ritual“, „Spectral“ oder „The Cloverfield Paradox“, aber  sogar Guillermo Del Toros „The Shape of Water“, immerhin für mehrere Oscars nominiert (inklusive Bester Film und Beste Regie), wären für mich frühestens mehrere Monate nach dem regulären Kinostart verfügbar. Und diese Werke müsste ich dann als Blu-ray für rund 15 bis 20 Euro bei Online-Anbietern kaufen (ansonsten neunzig Kilometer zum nächsten Media Markt oder Saturn). Ob sie sich lohnen? Weiß ich erst nach dem Erwerb. Es wären also Blindkäufe. Dies gilt im Grunde für alle Genrefilme. Der Konsum im Eigenheim stellt die Norm für mich dar, es war nie die Ausnahme. Ob früher aus der Videothek oder heute via Netflix und Co. Ich sage nicht, dass die Streaming-Anbieter zwingend ein Segen sind, aber in aller Konsequenz dennoch eine Bereicherung und Erleichterung. Zumindest für mich. Diejenigen, die in einer Großstadt leben oder aufgewachsen sind, und immer Zugriff auf allerlei Filmfestivals, Events, Sonderaufführungen oder Nischen-, Programm- und Bahnhofskinos haben oder hatten, sind natürlich anders sozialisiert. Für sie ist es „normal“ amerikanische Horrorfilme, britische Gruselstreifen, chinesische Actionfilme, italienische Slasherklassiker oder französische Arthaus-Fantasy auf der großen Leinwand zu schauen. Für mich war dies immer nur die Ausnahme. Ich erinnere mich, wie ich als Teenie in den 1990ern immer ganz begeistert die Werbeanzeigen und Berichte über das Fantasy Filmfest in der Moviestar las. Das war für mich eine komplett andere Welt. Hin wollte ich immer, es ging aber damals nicht. Hamburg war genauso weit weg wie Shanghai oder Buenos Aires. Selbst um Hollywood-Filme im Kino zu sehen, musste ich zwölf Kilometer mit dem Fahrrad radeln, um die Busfahrkarte zu sparen.

Dies wird vielleicht den ein oder anderen Leser überraschen, aber 98% aller Genrefilme, die ich kenne (auch die großen Klassiker), habe ich auf einer Röhre gesehen (später Flachbild-TV), nicht im Kino. Eine andere Möglichkeit bestand einfach nie. Zumindest nicht ohne größerem Aufwand. Für John Carpenters „Vampire“ fuhr ich 1999 mit dem Zug nach Magdeburg (nur Reisezeit knapp fünf Stunden). Für „Freddy vs Jason“, „Kill Bill“ und „Dawn of the Dead“ später dann 90 Kilometer (hin und zurück) nach Braunschweig. Und selbst diese Filme stellen im Grunde schon „größere“ Nischenfilme mit einem gewissen Massen-Appeal dar. Ansonsten fällt es mir jetzt schon schwer, mit Ausnahme einiger Festivals, eine Liste mit Genrefilmen zu erstellen, die ich im Kino sehen konnte. Diese Liste wäre SEHR kurz. Vielleicht zwanzig, allerhöchstens dreißig Filme. Wohlgemerkt in meinem ganzen Leben.

Der Übergang zu vermehrten Streams fällt mir und anderen deswegen wohl soviel leichter, weil sich die Projektiosfläche der Filme (hier: der TV-Bildschirm) nicht einmal ändert. Und ich weiß, dass ich diesbezüglich nicht alleine bin. Wir müssten sogar eher die Mehrheit sein. Die große Leinwand als einzige Darstellungsfläche ist eine wunderschön romantische Vorstellung, die ich immer gerne unterstütze, aber ganz ehrlich, in Bezug auf Genre- oder Nischenfilme war sie für mich oft einfach nicht gegeben.

Einen Film wie „Annihilation“ hätte ich frühestens für fünfzehn bis zwanzig Euro in fünf oder sechs Monaten als Blu-ray kaufen können. Das wäre meine einzige Alternative gewesen. Und sie war nie anders. Deswegen freue ich mich, dass Netflix den Film im Angebot hat, und dass die Streaming-Anbieter verstärkt auf Genre setzen (wir befinden uns ja noch ganz, ganz am Anfang). Natürlich verstehe ich jeden, der diese auf der großen Leinwand sehen will und dies bedauert. Ich ja auch! Aber selbst wenn sie laufen würden, könnte ich sie nicht sehen. Genre auf der großen Leinwand zu erleben, stellte auch immer einen geographischen Luxus dar.

Markus Haage

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Mein Name ist Markus Haage, Chefredakteur und Herausgeber vom Neon Zombie-Magazin. Es gibt nicht sonderlich viel spektakuläres über mich zu erzählen. Ich führe ein sehr langweiliges Leben. Aber falls es doch jemanden interessiert, freue ich mich immer über einen Besuch meiner Website www.markus-haage.de! Danke im Voraus!